Michael Jabara Carley
Dr. Michael Jabara Carley ist Lektor für Geschichte an der Universität Montreal. Er lehrt die Geschichte Russlands und der UdSSR, Geschichte des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges. Seine Forschungen sind den Beziehungen der Sowjetunion mit den Westmächten in der Periode von 1917 bis 1945 gewidmet. Carley hat intensiv sowohl in russischen Archiven von Moskau als auch in Archiven von Paris, London und Washington gearbeitet. Seine Publikationen wurden in mehr als Dutzend Sprachen übersetzt. Unter seinen Hauptwerken sind Bücher "Der geheime Krieg. Der Westen gegen Russland. 1917−1930" (veröffentlicht 2014, übersetzt ins Französische 2016 und ins Russische 2019) und "1939: Die Allianz, die nie existierte, und der Anfang des Zweiten Weltkrieges" (2009).
Die wahre und falsche Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges
Ich halte den Lehrgang "Der Zweite Weltkrieg" für Studenten der Universität Montreal. Viele von ihnen meinen, dass die USA den Zweiten Weltkrieg "gewonnen" haben. Die wenigen, die an diese Idee nicht glauben, haben höchstwahrscheinlich meinen Lehrgang schon besucht.

Am ersten Unterrichtstag spiele ich mit ihnen ein einfaches Spiel. "Wie viele von Ihnen, — frage ich —, haben von der Operation Overlord gehört? Heben Sie Ihre Hände bitte". Overlord ist die englisch-kanadisch-amerikanische Landung in der Normandie im Juni 1944. Alle melden sich. Dann frage ich: "Wie viele von Ihnen haben über die Operation Bagration gehört?" Als Antwort kommen mir nur erstaunte Blicke entgegen. Operation Bagration war eine große Offensive in der Mitte der Ostfront, die zwei Wochen nach der Operation Overlord stattfand. Das war eine der größten Kriegsaktionen in der Geschichte der Menschheit. Nur einige Studenten heben ihre Hände; das sind meist die Studenten, die meine anderen Lehrveranstaltungen schon besucht haben. Dann erkläre ich den Unterschied der Maßstäbe zwischen den zwei Operationen: 20 Divisionen nahmen an der Operation Overlord teil, und 130 an der Operation Bagration. Die Division der Roten Armee war etwas kleiner als die britische oder amerikanische, aber sie können trotzdem den Unterschied der Größenordnung begreifen. Während der Operation wurde die deutsche Heeresgruppe "Mitte" fast völlig vernichtet; der Vorstoß der sowjetischen Truppen erreichte ein Ausmaß von bis zu 600 Kilometern, und der Vorstoß der Alliierten beschränkte sich auf die Halbinsel Cotenin.

Die deutsche Wehrmacht begann den Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 an der langstreckigen Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Das war der Anfang des Zweiten Weltkrieges, von 1418 Tagen der unfassbaren Grausamkeit, Gewalt und Zerstörungen. Von den westlichen Grenzen der UdSSR bis zum Moskauer Stadtrand, von Leningrad und der Grenze zu Finnland im Norden bis Sewastopol im Süden wurde das Land zerstört und ruiniert.
Nach Expertenschätzungen kamen mehr als 17 Millionen Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder ums Leben, obwohl niemand jemals eine genaue Zahl erfahren wird. Dörfer und Städte wurden zerstört, oft wurden die ganzen Familien getötet und es gab niemanden, der um ihren Tod trauern konnte
Fast 10 Millionen sowjetische Soldaten fielen, weil sie kämpften, um die monströsen Naziinvasoren zu vertreiben und sie dann in Berlin im Frühling 1945 endlich zu zerdrücken. Viele gefallene Rotarmisten wurden offen entlang der Wege nach Westen liegen gelassen, andere wurden in unerkannten Massengräbern beigesetzt.
Von den Jungen, die in der UdSSR im Zeitraum von 1922−1924 geboren wurden, sind nach diesem Kriege nur drei von hundert am Leben geblieben
Die meisten sowjetischen Bürger haben ihre Familienmitglieder verloren. Niemand blieb unbetroffen.

Im Westen wissen die Menschen wenig von dem Großen Vaterländischen Krieg oder auch von der Anti-Hitler-Koalition, die von der UdSSR, Großbritannien und den USA aufgebaut wurde. Westliche Massenmedien, Hollywood und Fernsehen haben die maßgebliche Rolle der Roten Armee im Sieg gegen die Wehrmacht fast herausgestrichen. Für sie ist der Zweite Weltkrieg "ein Sieg" von Churchill und den USA. Die Sowjetunion ist für sie unsichtbar.

Der Westen hat mit dem "Löschen" von Heldentaten der Roten Armee schon längst begonnen. Nach der Befreiung von Frankreich 1944 hat die französische Regierung Plakate im Ehren des Sieges veröffentlicht, auf denen drei Flaggen prangten — die französische, die amerikanische und die englische. Die sowjetische Flagge wurde nicht gehisst. Eine unvorstellbare Undankbarkeit! Frankreich hat 1940 auf den Kampf verzichtet und anschließend mit dem Feind kooperiert. Das Denkmal in London zeigt Churchill und Roosevelt, die auf der Bank sitzen und sich miteinander unterhalten. Josef Wissarionowitsch Stalin ist nirgendwo zu sehen: "Habt ihr denn kein Plätzchen für mich gefunden?"

Obwohl das ironisch scheinen kann, wussten alle in den Gesellschaften der USA und Großbritannien, wer die ganze Last des Kampfes gegen die deutsche Wehrmacht auf sich trug. Karikaturisten wie David Low, Leslie Illingworth, Dr. Seuss und andere haben die sowjetische Rolle im Krieg ohne Zweifel anerkannt. Während die Briten nach ein paar deutschen Divisionen in Nordafrika suchten, fing die Rote Armee mehr als 200 Divisionen auf. 1942 agierten mehr als 80% der Divisionen der Achsenmächte gegen die Rote Armee. Ehrlich gesagt, waren 1.5% - der Anteil der Alliierten am Bodenkampf gegen die Wehrmacht — keine gerechte Aufteilung von Mühen und Opfern. Nordafrika war eher ein sekundärer Kriegsschauplatz, alle Hauptgefechte fanden an der sowjetischen Front statt.

Seit dem Abschluss der Schlacht von Stalingrad, die auch Roosevelt als wichtigster Kriegswendepunkt in Europa bezeichnete, hatten Briten, Amerikaner und Kanadier keine einzige Division, die in Europa kämpfte. Keine einzige.
Im März 1943 hat die Rote Armee einen Riesenangriff gegen die Achsenmächte geführt: 100 deutsche, italienische, rumänische und ungarische Divisionen wurden vernichtet oder kampfunfähig gemacht. Gleichzeitig war die Zahl der deutschen Divisionen, die von den Briten und Amerikanern besiegt wurden, gleich Null
Wahr ist, dass die Briten ein gewisses Schuldgefühl hatten, weil sie während des Bodenkampfes in Europa ihre Zeit abgesessen hatten, und deshalb gerne auf ihre massive Bombardierung deutscher Städte aus der Luft verwiesen.

Englische und amerikanische Divisionen landeten schließlich im September 1943 in Italien an der Küste des europäischen Kontinents. Stalin forderte lange Zeit die Eröffnung einer zweiten Front in Frankreich, was Churchill in jeder Hinsicht ablehnte.
Der britische Premierminister wollte den "weichen Unterleib" der "Achse" nicht angreifen, um der Roten Armee zu helfen, sondern um Ihr Vordringen auf den Balkan zu verhindern
Die Idee war, schnell den "italienischen Stiefel" zu erklimmen und dann nach Osten, auf den Balkan, zu gehen, um die Rote Armee daran zu hindern, dort einzudringen. Der Weg nach Berlin führte jedoch durch den Nordosten. Churchills Plan scheiterte; die westlichen Alliierten erreichten Rom erst im Juni 1944. In Italien gab es etwa 20 deutsche Divisionen, die gegen die größeren alliierten Streitkräfte kämpften. Im Osten gab es immer noch mehr als 200 "Achsen"-Divisionen, zehnmal mehr als in Italien. Aber schon dadurch erhöhte sich der anglo-amerikanische Anteil am Kampf gegen die Wehrmacht von 1,5% auf 10%, was für die westlichen Verbündeten sehr schwerwiegend war.

Man könnte meinen, dass die französische Post-Vichy Regierung auf ihren Propagandaplakaten Platz für Sichel und Hammer machen könnte, oder dass ein britischer Bildhauer auf dieser Bank in London mit Roosevelt und Churchill einen Platz für Stalin finden würde. Aber nein. Auf sowjetischen Propagandaplakaten sieht man, wenn es um Flaggen geht, immer drei — amerikanische, britische und sowjetische. Aber natürlich nicht französisch — Frankreich hat seinen Platz unter den anderen nicht verdient. Dennoch sollte man an die französische Widerstandsbewegung und die Partisanenbewegung denken, die gegen die nationalsozialistischen Besatzer und Kollaborateure Vichy kämpften, um die Ehre Frankreichs zu verteidigen, sowie an ein Geschwader von Kämpfern "Normandie-Njemen", das Schulter an Schulter mit der Roten Armee kämpfte. Die Sowjetunion erinnerte sich an die Heldentaten ihrer Verbündeten und erinnert sich auch heute noch in der Russischen Föderation an sie. Es waren nämlich die Vereinigten Staaten und Großbritannien, die versuchten, den Riesenbeitrag der Sowjetunion zum Sieg über den gemeinsamen Gegner einschlafen zu lassen. Sobald der Krieg zu Ende war, begannen dieselben "Alliierten" sich dem nächsten Krieg, diesmal gegen die Sowjetunion, zu überlegen.
Im Mai 1945 hat das britische Kommando die Operation Unthinkable vorbereitet — ein streng geheimer Kriegsplan, der einen Angriff auf die Rote Armee mit Einsatz von deutschen Kriegsgefangenen vorsah. Was für Schurken!
Im September 1945 zog das Pentagon die Möglichkeit in Betracht, 204 Atombomben einzusetzen, um die Sowjetunion zu zerstören. Der Pate der Anti-Hitler-Koalition, Roosevelt, starb im April, und innerhalb weniger Wochen änderten amerikanische Antikommunisten seine Politik. Die "Großen Drei" waren nur ein kurzer Waffenstillstand in der Auseinandersetzung, der nach der sozialistischen Oktoberrevolution im November 1917 begann und 1945 wieder aufgenommen wurde.

Man konnte die alte Hasspolitik gegen die Sowjetunion so einfach nicht fortsetzen, ohne die Erinnerung an die Rolle der Sowjetunion im Sieg gegen einen gemeinsamen Gegner zu löschen. Dafür brauchte man etwas Zeit. Ganz wie Nachtdiebe haben die USA und Großbritannien die Wahrheit über den Sieg über Nazideutschland gestohlen. Engländer und Amerikaner beanspruchten für sich einen Siegeskranz, den sie nicht verdient hatten — wie Soldaten, die eine Verdienstmedaille tragen, obwohl sie jemand anderem gehört.

Selbst jetzt geht die schamlose Lügenkampagne weiter. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und das Europäische Parlament in Straßburg machten die Sowjetunion für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich und bezogen sich dabei unbewusst auf Russland und Präsident Wladimir Putin. Adolf Hitler wird von ihnen in diesem Bild voller unbegründeter Anschuldigungen fast vergessen.
Die hervorragende Rolle der Sowjetunion im Sieg gegen die Wehrmacht wurde in Unterdrückung, Gewalt und Räuberei transformiert
Hinter dieser lügnerischen pseudohistorischen Narration stecken baltische Staaten, Polen und die Maidan-Ukraine, die Hass gegen Russland predigen. Das Baltikum und die Ukraine verehren jetzt die Nazikollaborateure und feiern ihre Gräueltaten.

Doch in Russland funktioniert die Lügenpropaganda des Westens nicht. Jedes Jahr erinnern sich die Russländer am 9. Mai an Millionen Soldaten, die auf den Feldern der großen Gefechte kämpften und fielen, und an Millionen Zivilisten, die durch die Nazis Schaden erlitten. Veteranen, von denen jedes Jahr weniger verbleiben, tragen abgeschabte Dienströcke, mit Medaillen und Kampforden bedeckt. "Verhaltet euch ihnen gegenüber mit Takt und Respekt", — hat Marschall Georgi Schukow in seinen Memoiren geschrieben: "Das ist ein geringer Preis dafür, was sie für euch 1941−1945 getan haben".
Falls der Westen wirklich die Beziehungen mit Russland verbessern möchte, könnte er mit dem Verzicht auf seine Geschichtsfälschung des Zweiten Weltkrieges beginnen. Er könnte von der Rehabilitierung des Faschismus in Osteuropa Abstand nehmen
Westliche Länder könnten hochrangige Delegationen und Truppen nach Moskau entsenden, um am 9. Mai gemeinsam mit ihren russischen Amtskollegen zu marschieren und an die gemeinsame Sache des Kampfes gegen den Nazismus zu erinnern. Das wäre ein Anfang. Der Westen kann die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg nicht umdrehen.
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