Jean de Gliniasty
Jean de Gliniasty war der Botschafter Frankreichs in Russland von 2009−2013. Momentan ist er Direktor der Forschungsabteilung für Russland und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in dem Institut für internationale und strategische Beziehungen, IRIS, in Paris. Jean de Gliniasty ist ein Berufsdiplomat, der auf eine extensive und erfolgreiche Karriere zurückblicken kann. Seinen diplomatischen Dienst startete er 1975 in der Abteilung mit Schwerpunkt Nordafrika und Mittelost des Auswärtigen Amtes Frankreichs, im Jahre 1981 wurde er zum stellv. Leiter des Zentrums für die Analyse und Prognosearbeit. Er war im Amt des Beraters bei der Ständigen Vertretung Frankreichs in den Europäischen Gemeinschaften, als Direktor der Abteilung für Entwicklung und wissenschaftliche, technische und Bildungskooperationen sowie als Direktor der Abteilung für Afrika und dem Indischen Ozean tätig und hatte in der Abteilung für politische und Sicherheitsangelegenheiten gearbeitet. Von 1991−1995 war er Generalkonsul im Jerusalem, von 1999−2003 Botschafter in Senegal und anschließend von 2003−2006 Botschafter in Brasilien. Jean de Gliniasty ist ein Ritter der Ehrenlegion (2008). Er hat einen Hochschulabschluss in Philologie und Rechtswissenschaft und Diplome des Instituts für Politische Wissenschaften von Paris und der École nationale d’administration.
Die französische Wahrnehmung der Rolle Sowjetrusslands beim Sieg von 1945
Eine Umfrage des französischen Meinungsforschungsinstitut Institut français d’opinion publique (IFOP), die von anderen seriösen Instituten unterstützt wurde, zeigt, dass 1945 57% der Franzosen der Meinung waren, dass Sowjetrussland das Land war, das am meisten zur Niederlage des Nationalsozialismus beigetragen hatte. Bis 2015 war diese Zahl auf 23% gesunken. Umgekehrt waren 1945 20% der Franzosen der Ansicht, dass die Vereinigten Staaten den größten Beitrag zum Sieg über den Nationalsozialismus geleistet hatten. Dieser Prozentsatz stieg bis 2015 auf 54%. Das ist etwas weniger als 2004, als 58% der Franzosen die Vereinigten Staaten als Hauptverantwortlichen für den Sieg über den Nationalsozialismus betrachteten.

Die irrige Wahrnehmung einer offensichtlichen historischen Tatsache ist erstaunlich. Mit 27 Millionen Toten in der Sowjetunion, darunter 11 Millionen militärische Verluste im Vergleich zu weniger als 200.000 auf amerikanischer Seite, mit dem Gewicht des Krieges in Europa, das fast drei Jahre lang allein von der UdSSR getragen wurde, mit entscheidenden Siegen bei Stalingrad, Moskau, Kursk, mit der Präsenz von 165 deutschen Divisionen gegen Russland im Vergleich zu 86 an der Westfront nach der Landung in der Normandie…
Für die Russen ist der Jahrestag eines hoch bezahlten Sieges über den Nazismus das Symbol der nationalen Einheit, der Macht des Landes und seiner Beständigkeit im Laufe der Geschichte
Der 9. Mai ist der wahre Nationalfeiertag, ein großer Moment der Meditation und der Zusammengehörigkeit. Die Unkenntnis, ja Leugnung der Rolle Sowjetrusslands beim Sieg ist schockierend. Dafür gibt es jedoch viele Erklärungen.

Die wichtigste, wenn auch selten hervorgehoben, ist die erhebliche Schwächung des Geschichtsunterrichts in Frankreich, wahrscheinlich mehr noch als in anderen Ländern. Das Studienfach wurde auf wenige Stunden pro Monat reduziert. Viele Jahre lang war es in den Schulbüchern untersagt, Geschichte ereigniszentriert oder chronologisch zu vermitteln. Meistens wurde zugunsten einer Geschichte der großen Bewegungen, der sozialen Ereignisse und der großen Probleme (z.B. die Entkolonialisierung, die Wirtschaftskrise, die Sklaverei, das Leben der Leibeigenen usw.) auf die Erwähnung der großen Schlachten und der historischen Persönlichkeiten verzichtet. Lange Zeit war es den Lehrbüchern verboten, eine "nationale Narration" zu konstruieren und damit zugleich eine synthetische Sicht der Geschichte aus französischer Sicht zu erzählen.
Die brillante französische Annales-Schule, die angeblich die Grundlagen der "traditionellen" Geschichte kannte, hat mit Hilfe von Schulbüchern, die eher soziologisch als historisch ausgerichtet waren, Generationen von Schülern ohne Orientierungspunkte und als buchstäbliche Geschichtsanalphabeten hervorgebracht
Diese Entwicklung hat zu einer größeren Reizempfindlichkeit gegenüber den "nicht-akademischen" Quellen der historischen Kultur geführt: Kino, Zeitschriften, Videospiele, Serien, Comic-Strips usw. Das Phänomen der Befruchtung durch die "sanfte Macht" der Medien ist in Frankreich besonders ausgeprägt. Indes trat es zu einer Zeit auf, als der russische kulturelle Einfluss erheblich nachgelassen hatte. Nach dem Krieg und bis in die 1980er Jahre war die Kommunistische Partei Frankreichs Träger einer Gegenkultur, die von mehr als einem Drittel des französischen Volkes weitgehend geteilt wurde — den Kommunisten selbst, die nach dem Krieg etwa 25% der Wählerschaft ausmachten, und den Gaullisten, die die amerikanische Vorherrschaft innerhalb des Atlantikblocks ablehnten.
Das Kino, die Instrumentalmusik, die Lieder, die Chöre der Roten Armee, das Theater, das Ballett, die Literatur waren Teil dieser Kultur, deren gemeinsamer Bezugspunkt der Sieg über den Nazismus gewesen ist und die der Menschheit durch den Aufbau des Sozialismus neue Horizonte eröffnete
Die Station "Stalingrad" der Pariser Metro, die trotz der Namensänderung der Stadt bis heute ihren Namen behalten hat, zeugt von dieser Epoche. Diese Epoche ist zu Ende gegangen.

Zunächst verblasste die Popularität der UdSSR bei den "linken Intellektuellen" mit der Wiederherstellung der Ordnung in der Tschechoslowakei 1968. Es folgten die zahlreichen Veröffentlichungen über den Gulag, die Öffentlichkeitsarbeit für die sowjetischen Dissidenten, die sich auf die Vereinbarungen von Helsinki stützten, und ihr dritter Korb über Menschenrechte und Freiheiten.

Als der Kalte Krieg an Intensität verlor, konzentrierte sich die ideologische Debatte nicht mehr auf die Errichtung des Sozialismus mit der Unterstützung eines großen Landes, das den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte und die Botschaft der globalen Emanzipation vermittelte. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Notwendigkeit der Achtung der Menschenrechte durch ein Regime, das seine eigenen Kinder "gefressen" hatte.

Aus der französischen Sicht nehmen die Heldentaten des sowjetischen Volkes während des Krieges den zweiten Platz gegenüber dem Leiden während der stalinistischen Periode und der Unterstützung der kommunistischen Regime in Osteuropa ein. Der Zusammenbruch der UdSSR bedeutete keine Erneuerung des russischen kulturellen Einflusses, ganz im Gegenteil. In einer nunmehr unipolaren Welt nahm die öffentliche Meinung die Geschichte mit den Augen der Vereinigten Staaten wahr.
Diejenigen, die sich als "Sieger des Kalten Krieges" präsentierten, wurden in der Folge auch zu Siegern des Zweiten Weltkriegs
Das Beinahe-Verschwinden der Kommunistischen Partei Frankreichs, der finanzielle Bankrott Russlands, die Konzentration der Medien auf den Verfall der russischen Gesellschaft, der Niedergang des Russischunterrichts — all dies illustrierte eine vorübergehende Auslöschung des kulturellen Einflusses Russlands und eine wachsende Unkenntnis seiner Rolle beim Sieg von 1945. Vorbei sind die Zeiten, als russische Kriegsfilme mit "Die Kraniche ziehen", "Die Ballade vom Soldaten" oder "Normandie-Njemen" das französische Publikum bewegten. Von nun an prägten amerikanische Blockbuster über den Krieg die französische Wahrnehmung: "Der längste Tag" über die Landung in der Normandie oder "Der Soldat James Ryan" erweckten schließlich den Eindruck, dass sich der Krieg größtenteils an der Westfront abspielte.
Frankreich wurde durch die Amerikaner von den Nazis befreit und hier hört die Geschichte auf…
In einem geringeren Ausmaß lässt sich dasselbe Phänomen für den Ersten Weltkrieg beobachten, wo die Rolle Frankreichs in vielen kürzlich erschienen amerikanischen Filmen verschwindet wie zuletzt beim Film "1917".

In der gegenwärtigen Periode ist jedoch in Frankreich eine Wiederbelebung der historischen Studien über den Krieg im Osten zu beobachten — siehe "Barbarossa" von Jean Lopez und Lasha Otkhmezuri, eine Zunahme des Geschichtsbewusstseins der Öffentlichkeit und vor allem eine neue Anerkennung der Rolle Russlands beim Sieg von 1945 durch die französische Regierung. Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt es in Frankreich kein politisches Interesse oder Hintergedanken an dieser Wahrnehmung einer wichtigen historischen Tatsache, deren Bedeutung für die russische öffentliche Meinung und die russische politische Klasse zweifellos einst unterschätzt wurde.

Aus diesem Grund kündigte der französische Präsident an, dass er am 9. Mai 2020 zum 75. Jahrestag des Sieges über den Nazismus nach Moskau reisen werde.
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