Thomas Kunze
Thomas Kunze, geb. 1963 in Leipzig, Dr. phil.; deutscher Historiker und Publizist; Autor von Biographien und Büchern zur deutschen, osteuropäischen, sowjetischen und postsowjetischen Zeitgeschichte. Von 2005 bis 2008 und seit 2019 Leiter des Büros Russland und Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für die Russische Föderation.
Wie beurteilen Sie heutige Versuche, die Rolle der Sowjetunion beim Sieg im Zweiten Weltkrieg umzudeuten?
Vor wenigen Wochen war ich in St. Petersburg und traf mich mit der 92jährigen Nichte des sowjetischen Star-Tenors der 1930er Jahre, Wadim Kozin, Muza Nikolajewna Jeremejewa. Die Blockade von Leningrad, 1941−1944, verbrachte sie in der geschundenen Stadt. Die historischen Fakten über die Blockade sind bekannt, Historiker beschreiben ihren Verlauf, Geschichtebücher nennen ihre Opferzahlen. Muza Nikolajewna erzählte mir ihre Geschichte. Als sie als kleines Mädchen während der Blockadezeit eines Tage zurück ins Haus ihrer Eltern und den dunklen Treppenaufgang hoch kam, vernahm sie ein dumpfes, schweres Röcheln. Sie sah einen Mann in einer Ecke liegen, der kaum vernehmbar um Nahrung flehte. Zu Tode erschrocken und weinend, rannte sie die letzten Stufen hoch in die Wohnung. Als ihre Eltern kurze Zeit später in das Treppenhaus gingen, war der Mann tot. Sein verwesender Leichnam lag noch mehrere Tage dort.

Spuren und Narben des Zweiten Weltkrieges prägen Familien, Gesellschaften und die Politik in vielen Ländern bis heute. Kein Krieg der Menschheitsgeschichte war und verlustreicher an Opfern und größer an Zerstörungen als der Zweite Weltkrieg. Mindestens 66 Millionen Menschen sind durch ihn zu Tode gekommen.

Historischer Fakt ist, dass der Krieg, der in Europa von Deutschland ausging, und dass er seine verlustreichsten und entscheidendsten Kämpfe im Westen der Sowjetunion auf dem Gebiet der heutigen Staaten Russland, Weißrussland und der Ukraine hatte. An keinem Kriegsschauplatz fielen so viele Soldaten, gab es so viel zivile Opfer und materielle Zerstörungen. Als Historische Einschnitte bleiben die Schlacht um Stalingrad und die Panzerschlacht bei Kursk in Erinnerung.
Der Russland- oder Ostfeldzug, wie er im damaligen Deutschen Reich genannt wurde, war ein erbarmungsloser, brutaler Krieg. Er wurde von Hitler-Deutschland von Anfang an als ein Vernichtungskrieg geführt
Die ideologische Komponente in diesem Krieg führte u.a. dazu, dass sich an deutscher Seite auch andere europäische Nationen und Freiwilligenverbände an dem Angriff gegen die UdSSR beteiligten.

Was 1939 bzw. 1941 von Deutschland ausging, fiel 1945 auf Deutschland zurück. Deutsche Großstädte fielen Bombardierungen zum Opfer. 15 Millionen Deutsche wurden aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben. Hunderttausende wurden in Zwangsarbeit verschleppt. Deutschland wurde in Besatzungszonen aufgeteilt und schließlich, 1949, in zwei Staaten geteilt.

Die Sowjetunion führte den Krieg von Anfang an als einen Krieg, der jedem Einzelnen, jeder Familie, jedem Betrieb das Äußerte abverlangte. Dadurch gelang es der Sowjetunion mit ihren Verbündeten diesen Krieg gegen Hitler zu gewinnen. Die Evakuierung der Industrie veränderte die industrielle Geografie des ganzen Landes bis heute. Städte wie Minsk, Woronesch oder Stalingrad wurden weitestgehend zerstört, ganze Landstriche in Weißrussland entvölkert.

Kein Staat der Welt hatte während des Zweiten Weltkrieges mehr Opfer zu beklagen als die Sowjetunion. Mindestens 27 Millionen Menschen verlor die UdSSR in diesem Krieg, größtenteils Zivilisten.
Diese Geschichte kann nicht umgeschrieben werden. Hitlers Deutschland hat diesen Krieg begonnen, und jeder Deutsche weiß um diese historische Schuld
Wie können wir das Gedenken an den Sieg gegen Nazismus bewahren?
Der deutsche Kanzler Konrad Adenauer sagte 1959: "Die Toten mahnen uns. Sie haben uns Überlebenden die Aufgabe hinterlassen, aus den Erfahrungen und Leiden der Vergangenheit zu lernen, ein besseres Deutschland aufzubauen und für den Frieden zu wirken." Was 1959 galt, ist für uns Deutsche noch heute aktuell. Wie in der russischen Gesellschaft hat der Zweite Weltkrieg auch in der deutschen Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen. Überall in Deutschland findet man Denkmäler für die Opfer des Nationalsozialismus. Auch die sowjetischen Denkmäler stehen weiterhin in deutschen Städten, teilweise — wie in Berlin — mitten im Stadtzentrum.

Am 14. September 1990, kurz vor der Wiedervereinigung Deutschlands, schrieben der damalige Bundesaußenminister, Hans-Dienstrich Genscher, und der amtierende Außenminister der DDR, Ministerpräsident Lothar de Maiziére, im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des 2−4-Vertrages einen gemeinsamen Brief an die Außenminister der Sowjetunion, Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten. Dort heißt es: "Die auf deutschem Boden errichteten Denkmäler, die den Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft gewidmet sind, werden geachtet und stehen unter dem Schutz deutscher Gesetze. Das Gleiche gilt für die Kriegsgräber, sie werden erhalten und gepflegt." Die sowjetischen Denkmäler gehören zu Deutschland.

Immer wieder hört man von in Russland lebenden oder russlandreisenden Deutschen, dass man in Russland als Deutscher keinen Hass spürt. Auch mir persönlich geht das so.
Wir Deutschen sind den Völkern Russlands und der Sowjetunion dankbar, dass sie vergeben haben, dass sie zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart unterscheiden
In diesem Jahr erinnern wir nicht nur an 75 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges. Wir blicken in Deutschland auch auf 30 Jahre Wiedervereinigung zurück. Beide historischen Ereignisse stehen im engen Zusammenhang. Dass sich die Sowjetunion 1990 angesichts der deutschen Kriegsschuld und der deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion für die Vereinigung unseres Vaterlandes eingesetzt und ihm zugestimmt hat, wird uns immer zu Dankbarkeit verpflichten. Russland erinnert zum 75. Jahrestag des "Sieges im Großen Vaterländischen Krieg" - wie er bei Ihnen heißt — an die Opfer, die in diesem Krieg für ihre Heimat fielen.
Es erinnert an die Entbehrungen, und es ehrt seine Veteranen. Aber es tritt Deutschland im Jahr 2020 nicht anklagend und den Deutschen in freundschaftlicher Verbundenheit gegenüber. Dies ist eine enorme kollektive Leistung Ihres Landes
Gute und freundschaftliche deutsch-russische Beziehungen sollten uns immer deshalb Verpflichtung sein. Und dies gilt umso mehr in Zeiten, in der die Völker Europas vor neuen Herausforderungen stehen. Zeiten, in denen es gilt, sich gegenseitig beizustehen, wie jetzt während der Corona-Pandemie. Es ist die größte weltweite Katastrophe seit 1945, und sie zwingt die Völker zu einer gegenseitigen Solidarität, wie sie schon lange nicht mehr benötigt worden war. Russland ging mit seiner schnellen Hilfe für das geplagte Italien voran.

Solche unfassbaren Krisen müssen eine Chance sein. Ich bin überzeugt davon, dass wir nach dieser Krise innehalten müssen, um Prioritären neu zu setzen. Das trifft für jeden einzelnen zu, aber auch zwischenstaatliche Beziehungen. Wir werden uns neu sortieren und dann — auch in Anbetracht des Überstandenen — daran erinnern, dass Russland fest zu Europa gehört. Juristisch ist die Nachkriegszeit 1990 zu Ende gegangen. Die gegenwärtige Krise bedeutet, 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, das faktische Ende der Nachkriegszeit. Danach geht es um die Gestaltung des 21. Jahrhunderts. Visionen wie die eines gemeinsamen europäischen Hauses, eines Europas vom Atlantik bis zum Pazifik, von denen de Gaulle, Kohl, Gorbatschow, Putin, Macron und andere Staatsmänner sprachen, könnten zu neuer Dynamik finden.
Wie schätzen Sie die Risiken der weltweiten Wiederbelebung der ultrarechten Ideologien für die heutige Zeit? Wie kann man dagegen ankämpfen?
Die Corona-Krise zeigt eindrücklich, dass es nicht auf Ideologien, sondern auf funktionierende Staatswesen ankommt. Insofern ist es eine schlechte Zeit für ultrarechte oder ultralinke Ideologien. Das Jahr 2020 wird für das 21. Jahrhundert einmal eine ähnliche Zäsur bedeuten wie das Jahr 1945 für das 20. Jahrhundert. Das betrifft Bündnisse und Allianzen, das betrifft Fragen der Globalisierung sowie der Wirtschafts- und Finanzpolitik, das betrifft internationale Solidarität, aber das betrifft auch — in vielen Ländern — ein Reflektieren darüber, was sich politisch bewährt hat und was nicht. Ich bin optimistisch dahingehend, dass das Ergebnis der Pandemie kein Aufleben extremer Ideologien, sondern ein Nachdenken darüber, was uns in unseren Staaten und Nationen, aber auch weltweit, zusammenhält. Unsere Verwundbarkeit ist uns allen allzu deutlich geworden.
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